Literaturnobelpreis 1970: Aleksandr Solschenizyn

Literaturnobelpreis 1970: Aleksandr Solschenizyn
Literaturnobelpreis 1970: Aleksandr Solschenizyn
 
Der russische Schriftsteller erhielt den Nobelpreis für »die ethische Kraft, mit der er die unveräußerlichen Traditionen der russischen Literatur weitergeführt hat«.
 
 
Aleksandr Issajewitsch Solschenizyn, * Kislowodsk 11. 12. 1918; Studium der Mathematik, Physik und Geschichte, 1945-53 in Lagerhaft, 1953-56 Verbannung nach Kasachstan, 1969 Ausschluss aus dem sowjetischen Schriftstellerverband, 1973 Ausweisung aus der UdSSR, 1973-76 im Exil in der Schweiz, 1976-94 im Exil in den USA, 1994 Rückkehr nach Russland.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Das heute bekannteste Werk des russischen Schriftstellers Aleksandr Solschenizyn ist »Der Archipel GULAG«. Es erschien in den Jahren 1973 bis 1975 in drei Bänden in Paris. Begonnen hatte der Autor mit der Arbeit an dem Buch jedoch bereits im Jahr 1958. Mit diesem »Versuch einer künstlerischen Bewältigung« des sowjetischen Straflagersystems von 1918 bis 1956 schockierte Solschenizyn die internationale Öffentlichkeit. In einer charakteristischen Mischung aus Dokumentation und Erzählung beschrieb er in erschütternd detaillierter Form die Terrormethoden, mit denen die sowjetische Führung und insbesondere das Regime des Diktators Josef Stalin gegen politische Abweichler vorgegangen war.
 
 Aufarbeitung der Straflagererfahrungen
 
Den Literaturnobelpreis hatte Solschenizyn drei Jahre vor dem Erscheinen des ersten GULAG-Bands erhalten. Bis dahin war er vor allem mit drei Romanen hervorgetreten, die sowohl in der Sowjetunion als auch im Westen für Aufsehen gesorgt hatten. 1962 war der Kurzroman »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« erschienen. Wie später beim GULAG handelte es sich dabei um einen realistischen Lagerroman, in dem der Autor auch eigene Erfahrungen verarbeitete. Im Juli 1945 war der damalige Artillerieoffizier Solschenizyn wegen kritischer Äußerungen zur Politik Stalins zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt worden. 1953 war er »auf ewige Zeiten« in die Verbannung nach Kasachstan geschickt worden, aus der er allerdings nach drei Jahren zurückkehren durfte.
 
Iwan Denissowitsch ist Insasse eines Straflagers. Solschenizyn schildert den Ablauf eines willkürlich gewählten Tages im Januar 1951. In der Monotonie des Lageralltags gelingt es dem einfachen Zimmermann Denissowitsch, Strategien zum Überleben zu entwickeln. Im Gegensatz zu vielen Mithäftlingen schafft er sich durch seine Arbeit an einer Mauer einen Freiraum, der es ihm erlaubt, seine Würde und Selbstachtung zu bewahren. »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« war der einzige Roman Solschenizyns, der vonseiten der politischen Führung in der Sowjetunion mit Beifall aufgenommen wurde: Eine Abrechnung mit dem stalinistischen Lagersystem passte in das politische Klima jener Zeit und zu den politischen Vorstellungen der Gruppe um Parteichef Nikita Chruschtschow. Die Zeitung »Prawda« stellte damals die Erzählkunst Solschenizyns in eine Reihe mit der dichterischen Kraft des großen russischen Schriftstellers Leo Tolstoj.
 
Die Ablösung Chruschtschows durch Leonid Breschnew im Jahr 1964 führte zu einem innenpolitischen Kurswechsel, der die Arbeitsbedingungen des kritischen Schriftstellers Solschenizyn zunehmend erschwerte. Die beiden nächsten großen Romane, »Krebsstation« und »Der erste Kreis der Hölle«, erschienen 1968 im westlichen Ausland. Beschrieb Solschenizyn in »Iwan Denissowitsch« den Alltag in einem sowjetischen Sträflingslager, so in der »Krebsstation« den Alltag in einem Krankenhaus im asiatischen Teil der Sowjetunion. Wieder hat Solschenizyn eigene Erlebnisse in den Roman eingebracht: Während seiner Verbannung in Kasachstan war er an Krebs erkrankt und in ein Krebskrankenhaus eingeliefert worden. Die Patienten der »Krebsstation« symbolisieren insgesamt eine von Solschenizyn als krank betrachtete sozialistische Gesellschaft. Als ein Werk des kritischen Realismus vermittelt der Roman im bewussten Gegensatz zu dem unter Stalin vorherrschenden optimistischen Realismus, keine positive Perspektive. Zwar werden einige der Insassen der Krebsstation als geheilt entlassen. Doch bringt die Rückkehr ins normale Leben keine wirkliche Befreiung.
 
»Im ersten Kreis der Hölle« ist wieder ein Häftlingsroman, der in einem Gefängnis für politisch Verurteilte nahe Moskau spielt. Und einmal mehr behandelt Solschenizyn hier das Thema von Menschen, die unfreiwillig von der Außenwelt isoliert worden sind und die mit dieser Situation zurechtkommen müssen. Gruppiert um die Hauptfiguren des Romans, den Ingenieur Nerzin und den Diplomaten Volodin, entwirft der Schriftsteller ein breites Szenarium von einzelnen Charakteren mit höchst unterschiedlichen Reaktionsweisen auf das Häftlingsdasein — von Teilnahmslosigkeit und Resignation bis hin zu einem freilich zum Scheitern verurteilten revolutionären Optimismus.
 
 Regimekritik und Ausweisung
 
Solschenizyn hielt es für angebracht, nicht persönlich zur Verleihung des Literaturnobelpreises nach Stockholm zu reisen. Mit Andrej Sacharow, der 1975 den Friedensnobelpreis erhielt, stand er auf der Liste der Gegner des sowjetischen Regimes inzwischen ganz oben. 1969 war er wegen seiner öffentlichen Kritik an der Zensur aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen worden. Die Reise nach Stockholm, so fürchtete Solschenizyn, würden die sowjetischen Behörden dazu nutzen, ihm die Rückkehr in die Heimat zu verweigern. So nahm er den Preis vorsichtshalber in der schwedischen Botschaft in Moskau entgegen. Bei der Preiszeremonie, die ohne Solschenizyn in Stockholm stattfand, wurde die Verankerung des Schriftstellers in der Tradition der russischen Literatur hervorgehoben. Und man betonte, wie sehr sich der Autor für die unzerstörbare Würde des Menschen und damit für einen wahren Humanismus eingesetzt habe. Solschenizyn verfasste eine Dankesschrift, in der er seinen Glauben an eine Weltliteratur zum Ausdruck brachte, die die Macht habe, den Menschen zu helfen, ohne sich von Politik und Parteien bevormunden zu lassen. Und so rief er die Literaten der Welt auf, den Kampf gegen die Falschheit aufzunehmen.
 
Im Februar 1974 wurde Solschenizyn, der unermüdliche Kritiker von Unmenschlichkeit und Terror, aus der Sowjetunion ausgewiesen. Die Maßnahme galt vor allem dem zu unbequem gewordenen Autor des »Archipel GULAG«. Die ersten Tage nach der Ausweisung verbrachte er in Deutschland bei dem Schriftsteller Heinrich Böll (Nobelpreis 1972). Bis 1976 lebte er dann in der Schweiz. Danach verließ er Europa und siedelte in die USA über, nachdem ihm der sowjetische Geheimdienst KGB vorgeworfen hatte, während seiner Lagerhaft 1953 Spitzeldienste geleistet zu haben. Während des Exils verfasste er einige historische Romane, die wieder der Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte und Vorgeschichte dienten (»August 1914«, »November 16«, »März siebzehn«). Erst 1994, nach den demokratischen Reformen von Michail Gorbatschow und dem Ende des Sowjetsystems, kehrte Solschenizyn in seine Heimat zurück.
 
H. Sonnabend

Universal-Lexikon. 2012.

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